Infomobile Tour EVROS 03. - 08.08.2010
Auf der Suche nach den Vermissten vom Evros
Am 25.6.2010 ertranken im Evrosfluss 16 Menschen bei dem Versuch, die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zu überwinden. Vier Frauen und 7 Kinder saßen in einem kleinen Boot; mehrere Männer und jungere Frauen hielten sich aneinander fest, um nicht von den reißenden Fluten mitgerissen zu werden. Auf dem glitschigen Untergrund konnten sich die Flüchtlinge, viele von ihnen Nichtschwimmer, nicht halten und stürzten. Panik brach aus und 16 Menschen ertranken. Sogar diejenigen, die schwimmen konnten und Anderen halfen, sind danach verschwunden. Die Wochen davor hatten starke Regenfälle den Fluss viel tiefer als üblich gemacht.
Eine afghanische Frau und ihre drei Kinder gehörten zu denen, die das Unglück überlebten. Ihr Mann und zwei Freunde von ihm verschwanden im Wasser. Am Ufer angekommen suchten die Überlebenden stundenlang nach ihren vermissten Familienmitgliedern und warteten dann, bis die Polizei sie entdeckte. Sie wurden mit ihren drei Kindern in XIMONIO in einem Knast bei der Polizeistation, einem der vielen Polizeiknäste für Flüchtlinge, zweieinhalb Tage eingesperrt, obwohl sie befürchten musste, dass ihr Mann und zwei seiner afghanischen Freunde im Fluss ertrunken waren. Wir hörten von ihr und ihrer verzweifelten Suche nach den Vermissten aus Athen.
Einige Zeit später erfuhren wir in Hamburg von einer Beratungsstelle, dass die Afghanin mit ihren Kindern dort angekommen war. Als wir sie besuchen wollten, war sie gerade nach Neumünster umverteilt worden. Von ihrem seit Jahren in Hamburg lebenden Bruder erhielten wir die Namen der drei Vermissten, Fotos von ihnen und Beschreibungen ihrer Kleidung und der Ringe, die sie trugen. Die Frau und ihr Bruder setzen große Hoffnung darauf, dass wir mit diesen Informationen die Vermissten finden könnten. Insbesondere die Mutter der drei Kinder litt sehr unter der Ungewissheit über des Schicksal ihres Mannes und seiner beiden Freunde. Außerdem erfuhren wir, dass ihr Mann als Journalist gearbeitet hatte.
Da wir ohnehin in die Evrosregion fahren wollten, um einen Infobus für Flüchtlinge nach Griechenland zu bringen, beschlossen wir, alle Polizeistationen zu besuchen und mit den Fotos nach den drei vermissten Männern zu suchen. Die Polizeiwachen sind gleichzeitig detention center in der Evrosregion, in denen alle neuankommenden Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Babys und Männer in ganz engen Räumen mehrere Tage, manche sogar Monate lang festgehalten werden.
Wir begaben uns zunächst nach ALEXANDROUPOLIS an der Mündung des Grenzflusses Evros. ALEXANDROUPOLIS ist die größte Stadt der Region und hat einen Bahnhof, aus dem täglich Züge nach Thessaloniki und Athen fahren. Abends am Bahnhof trafen wir mehrere Flüchtlinge, die gerade freigelassen waren und auf den Zug warteten. Wir sahen, wie ein afghanische Familie mit drei jungen Frauen, einem Baby und einer älteren Frau vom Zugführer nicht mitgenommen wurde, obwohl der Zug leer war, mit der Begründung, sie hätten nicht rechtzeitig Tickets gekauft. Es war 20 Uhr abends und der nächste Zug fuhr am nächsten Nachmittag um 15 Uhr. Nicht mal die Wartehalle im Bahnhof stand den Menschen als Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung. Ab 22.00 Uhr wird sie zugemacht. Verglichen mit ihren Knasterlebnissen war das gar nichts für die Menschen. Trotzdem waren sie sehr froh, als eine Übernachtungsmöglichkeit für die Frauen und das Baby entstand (siehe Bbricht ... und Interviews mit den Frauen).
Am nächsten Mittag begleiteten wir die Frauen zum Bahnhof und wollten sicher sein, dass sie auch mitgenommen werden. Und die farewell saison wieder eröffnen. Max hatte seine Gitarre mit und die Wartezeit wurde zum Konzert. Erstaunte Einheimische näherten sich unserer merkwürdige Reisegruppe, der eine hatte fast Tränen in Augen und sagte zu Max: Bravo, mein Junge!! Bravo euch Allen! und fing an mit zu singen. Andere trauten sich auch näher heran und fragten, was wir für ne Gruppe seid ihr? Die Strassenhändler, die wir am Vortag am Strand kennengelernt hatten, saßen glücklich neben uns und genossen die Musik und die ihnen freundliche Stimmung. Die Angst und die Sorge waren für kurze Zeit verschwunden aus den Augen der flüchtenden Menschen.
Am nächsten Morgen besuchten wir die gerichtsmedizinische Abteilung im Universitätskrankenhaus von ALEXANDROUPOLIS, um nach den Vermissten zu suchen und um die Kleidungsbeschreibungen, die wir hatten, zu vergleichen. Die Gerichtsmediziner erklärten uns, dass es ihnen daran liegt, die Leichen indentifizierbar zu machen, obwohl Ertrunkene sich sehr schnell so verändern, dass es fast unmöglich ist, die Menschen wiederzuerkennen. Deswegen werden DNAproben von allen Leichen genommen, um sie identifizieren zu können, wenn ihre Verwandte sie suchen. „Die Leichen kommen nicht mit einem Pass zwischen den Zähnen zu uns“, sagte der eine Gerichtsmediziner. Die Pathologen erzählten uns, dass sie im Jahr 2010 bereits 38 tote Flüchtlinge untersuchen mussten, im Vergleich zu 3 Toten im Vorjahr und 15 im Jahre 2008.
Sie sagten, wie selten es ist, dass Verwandte nach Menschen suchen und dass sie es schade finden und nicht verstehen können. Deswegen waren sie sehr froh, dass wir kamen und versprachen, alles zu tun, um uns zu helfen, die Menschen zu finden – am besten lebendig oder sie zu identifizieren. Sie erklärten uns den genauen Vorgang, wie die Fotos in den Akten entstehen: Die ersten werden von der Polizei vor Ort, wo die Toten gefunden werden, gemacht. Wenn die Leichen zu ihnen gebracht werden, machen sie, aber auch die Polizei nochmals Fotos, die später zur Identifizierung beitragen könnten. Sie sammeln auch alle Kleidungsstücke, Ringe und Uhren, die dann zur Akte gelegt werden. Natürlich wird viel geklaut und vieles, was die Menschen bei sich trugen, ist gar nicht mehr auffindbar. Nach dem sie die DNAproben genommen haben, kommen die gesamten Befunde in einer Akte zur zuständigen Polizeistation (in unserem Fall nach Orestiada, später nach Dikea).
Der Gerichtsmediziner versprach, mit den Polizeizuständigen zu sprechen, dass wir am nächsten Tag kommen würden, um die gefundenen Ringe anzugucken und zu vergleichen. Die Leichen würden nach muslimischen Brauch in der Nähe von SOUFLI in einem Dorf mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit namens SIDIRO vom Mufti begraben. Das sagte er etwas stolz, dass mindestens die Leichen respektvoll begraben werden.
Auf unsere Fragen, ob sie öfters Minenopfer haben, sagte er: nein! Erstaunlicherweise habe dies vor eineinhalb Jahren plötzlich aufgehört. Sie wunderten sich auch. Aber wir sollten auch im Krankenhaus von DIDIMOTIXO bei der Chirurgie und den Orthopäden fragen, weil dort die von Minen Verletzten versorgt würden. Am nächsten Tag gingen wir in DIDIMOTIXO ins Krankenhaus und auch der dortige Orthopäde sagte, dass er seit einem Jahr keine Minenverletzten gesehen hätte, was erstaunlich sei. Aber in einem der Dörfer direkt an der Grenze erzählten uns am nächsten Tag ältere Männer, dass vor einem Monat nachts das Geräusch von einer Minenexpolsion und danach ein Hubschrauber zu hören war....
Auf unserem Weg von ALEXANDROUPOLIS in den Norden fuhren wir nach SOUFLI und hielten unterwegs in den kleinen Orten, wo wir wussten, dass in Polizeistationen oder in abgelegenen Anlagen Flüchtlingsknäste sind. Die erste Station war PEPLOS, wo die Bewohner erzählten, dass der Knast nicht mehr exitiert und die Flüchtlinge nach FERRES gebracht werden.
Die nächste Station war TIXERO. Nah am Bahnhof, etwas außerhalb des Ortes befindet sich eine größere Halle mit großer griechischer Fahne, mehreren Polizeijeeps und einem Militärgefangenentransporter mit Vierradantrieb vor der Tür. Diese öffneten wir und gingen rein. Wir befanden uns mit den Fotos der Vermissten in der Hand in der Polizeistation, die den Knast kontrolliert. Auf Monitoren sahen wir die Knastflure und die Zellen, hörten Kindergeschrei. Es war unerträglich heiß soweiso und total viele Mücken in der Luft.
Der erstaunte Polizist antwortete auf unsere Frage, ob er auf seinen Listen nach den drei afghanischen Männern suchen könne: Nein, das könne er nicht tun, das würde ihm großen Ärger bringen. Wir sollten in der Polizeizentrale in ORESTIADA beim Direktor anfragen. Während der Pizzamann ihm Essen lieferte, schrie er einen Kollegen an, der offensichtlich von ihm gegen seinen Willen mit den Gefangenen eingesperrt war: Bleib da! Was solls? Es kommen sowieso gleich Neue! Auf unsere Frage, ob viele Flüchtlinge da seien, sagte er: Oh jaaa! Als ob wir die doofste Frage gestellt hätten.
SOUFLI ist der nächste größere Ort, mit Bahnhof und natürlich auch Polizeistation mit Knast.
Als wir am nächsten Morgen auch dort einfach die Tür aufmachten mit den Fotos in der Hand, sahen wir Polizisten, die 4 bis 5 jüngere Flüchtlinge herumbefahlen, die draußen ihr Schuhe anzogen. Die Polizisten sagten, wir sollten im Flur warten. Nach 10 Minuten wurden wir hereingerufen in einen Raum ganz nah an den Zellenfenstern. Kakelaken rannten herum. Sie schauten uns richtig erstaunt an, als wir mit unseren drei Fotos die Suchgeschichte erzählten. Auch sie konnten kein Wort sagen, keinen Namen nennen. Nicht einmal an die Rechstanwälte würden sie Namen geben, wurde uns gesagt. Wir sollten zum Polizeidirektor in ORESTIADA gehen und dort fragen. Ja, es sind viele Flüchtlinge da, ständig, sagte er. Von den Freigelassenen, mit denen wir geredet hatten, wussten wir ziemlich genau, dass 200 Leute dort festgehalten werden, in zwei Zellen 100 Menschen pro Zelle, Frauen, Männer, Kinder, und wie die Situation dort ist. Auch dass es diese Polizisten sind, die die männlichen Flüchtlinge schlagen, sobald sie sich beschweren oder was sagen wollen. Wir wissen, dass die Flüchtlinge Wasser aus dem Klo trinken müssen, dass kein Arzt kommt, wenn jemand krank ist, dass keine Übersetzer vorhanden sind, nur welche, die nach den Nationalitäten fragen oder diese ändern. Frontex ist überall. Jeder muss vier Mal seine Fingerabdrücke abgeben.
Danach gingen wir zum Bahnhof von SOUFLI. Ein kleiner Bahnhof, mit Blumen liebevoll bepflanzt, mit einer wunderschönen Mouria, die wie ein Schattendach gewachsen ist und unter dem Schatten im Kreis drei Bänke. Nah dran ein Brunnen mit Trinkwasser, ein gastfreundlicher Ort. Unter dem Baum trafen wir 3 minderjährige und 2 erwachsene Männer, die gerade bei der Polizeistation freigelassen wurden. Die Nachbarn waren schon los gegangen, um Brot und Käse für sie zu holen, weil die jungen Männer gezeigt hatten, dass sie sehr hungrig sind. 40-50 Leute werden pro Tag freigelassen und kommen hungrig am Bahnhof an... heute waren es schon 10. Wir holten aus dem Auto die Wassermelone, die wir durch ganz Europa gefahren hatten und die wahrscheinlich schon mal die ganze Reise anders herum gemacht hatte, und aßen gemeinsam Wassermelone und unterhielten uns.
Die Zugfahrt nach ALEXANDROUPOLIS kostet von hier 2,70 €. Ein paar Kilometer weiter im größten Knast der Region, FILAKIO werden nur die freigelassen, die 60.- € zahlen können. Damit wird ein KTEL-Bus gemietet, der sie nach Athen bringt. Vor einem Jahr war der Preis 30.- €, wer kein Geld hat, bleibt einfach drin. Heute sind 185 freigelassen worden und nach Zeitungsberichten sind heute 70 Neue angekommen.
Von SOUFLI fahren wir nach XIMONIO, dem kleinen Ort, wo unsere Bekannten und ihre Kinder zweieinhalb Tage eingeknastet waren, obwohl sie ihren Mann bzw. Vater verloren hatten und traumatisiert waren. Die Polizeistation ist klein und liegt direkt an der Straße. Im Hof sahen wir mehrere Flüchtlinge stehen. Wir fuhren wie üblich sofort rein und wurden angesprungen von einem wild gewordenen Polizisten, der brüllt: raaus hier! Sofort raus.
Ich sagte ihm, dass er sich beruhigen solle, wir wollten zu ihm. Als ich austeigen wollte, hielt er mir die Tür zu und schrie, ich solle sofort da raus fahren. Wir parkten vor der Tür und stiegen aus. Als ich ihm erklärte, dass wir die Frau kennen, ihren Mann suchen, wissen wollten, ob er vielleicht jetzt da eingeknastet ist, ging er in die Defensive und erklärte, sie hätten die Frau zu ihrem Schutz dabehalten, damit sie sich wiederfinden, wenn der Mann gefunden wird. Namen von Gefangenen geben sie nicht heraus. Wir sollten uns an die Polizeizentrale in ORESTIADA oder ALEXANDROUPOLIS wenden. Er wäre sehr beschäftigt, ob wir nicht gesehen hätten, was da abgeht. Tatsächlich sahen wir hinten im Hof mehrere Männer, Gefangene, die wahrscheinlich angekommen sind oder weg gebracht wurden. Er dachte wahrscheinlich, wir wollten sie befreien.
Die nächste Etappe war die Polizeistation in ORESTIADA, ohne sichtbaren Knast, aber mit zwei Frontexfahrzeugen vor der Tür geparkt: Lettland und Östereich. Der Frontexoberoffizier war derzeit ein Däne. Wir verbrachten vier Stunden in der Wache auf der Suche nach den Akten der Toten, wo auch die Ringe, die uns der Gerichtsmediziner gesagt hatte, sein sollten. Es war Samstag, Mitte August und eigentlich ist niemand in Griechenland am Arbeiten. Alle sind am Meer. Deswegen waren auch die zwei Zivilbullen, die extra wegen uns kommen mussten, nachdem wir Ministerium, Polizeidriektor usw. gesagt hatten, eher genervt. Der eine fing an uns zu fragen, wann und von welcher Grenzstation wir nach Griechenland gekommen sind und es schien, als ob er in der Hitze vergessen hat, dass wir nicht da sind, damit er uns verhört, sondern weil wir etwas wissen wollten. Stunden später kam „der Gute“, der sich entschuldigt für die lange Verspätung und uns sagt, wenn wir wirklich die Akten und die Ringe sehen wollten, dann müssten wir um 22.00 Uhr in der Polizeistation in DIKEA sein. Der zuständige Polizist, der in dieser Nacht die Schichtkontrolle hatte für ORESTIADA, ist auch derjenige, der Zugang zu den Akten hat.
Wir waren müde aber entschieden, doch nach DIKEA zu fahren und auf 22 Uhr zu warten. DIKEA ist direkt an der Grenze zu Bulgarien, der Evros läuft hinter den Häusern des Dorfes, das auf beiden Seiten der Bahnlinie gebaut ist. In der Kneipe, in der wir stundenlang warteten, dass der Polizist sein Schicht anfängt, erfuhren wir, dass dort oft Flüchtlinge entlang laufen, die gerade angekommen sind, nass, erschrocken, und dass vor Jahren ein sehr großer hübscher Mann ertrunken aufgefunden wurde, der dann in ihrem Friedhof begraben wurde. Die Frau, die uns das erzählte, sagte, dass sie täglich für ihn eine Kerze anmachte. Sie dachte an seine Familie, die nicht wusste, wo er ist. Aber seit der Friedhof umgegraben wurde, ist das Grab nicht mehr da. Viele kommen lebendig an und nass und wenn es nicht spätnachts ist und sie Angst haben, dann geben sie den Leuten eine Jacke oder einen Pullover zum Aufwärmen.
Der Polizist war pünktlich und korrekt. Er sagte, dass er und die Akten nicht zeigen kann, weil es das Persönlichkeitsrecht der Leute ist, auch wenn sie tot sind. Er holte die Ringe raus und eine Uhr und wir lasen ihm die Beschreibungen der Kleidung und Ringe vor und verglichen. Zum Glück passte nichts aus den Akten zu unseren Beschreibungen. Wir dachten zum Glück, obwohl für die Familie wahrscheinlich eine klare Nachricht, eine tragische, aber auch befreiende wäre, zu wissen, wo die Vermissten sind. Aber wir merkten, wie froh wir waren, das nichts passte. Schon diese Ringe zu sehen und diese Situation, vom andere Ende Europas nach Menschen zu suchen, die mensch versucht, an einem Ring zu identifizieren, und dazu der Gedanke, dass wir hier für ganz viele Familien sitzen, die nie herkommen werden, die nie erfahren werden, dass sie kommen könnten und suchen.
Wir gingen in die Polizeistationen und fragten nach den Namen der drei vermissten afghanischen Männer. Unsere „Hoffnung“ war, dass sie nicht ertrunken sind im Evros, sondern dass sie überlebt haben und festgenommen sind und dass wir sie irgendwo finden.
Auf keiner der Polizeistationen haben wir eine Bestätigung oder eine negative Antwort bekommen. Überall hörten wir: wir dürfen keine Namen sagen, nicht mal Anwälte kriegen hier Namen raus, gehen sie zur Polizeizentrale in ALEXANDROUPOLIS oder ORESTIADA.
Namen werden wir nie irgendwo hier erfahren, das wurde uns klar, aber aufgeben wollten wir auch nicht.
Am nächsten und letzen Tag der ersten Infomobilreise zum Evros wollten wir zum muslimischen Friedhof gehen. Wir waren froh, dass es so etwas gibt, weil wir wissen, wie Flüchtlinge begraben werden in Patras, Igoumenitsa, Mitilini und Chios und fanden es würdevoll, wenn Flüchtlinge ehrenvoll begraben werden. Im Dorf SIDIRO, 23 Kilometer von SOUFLI entfernt, sah es aus wie in einer anderen Welt. Frauen in langen bunten Kleidern liefen in Gruppen die Strasse entlang. Im einzigen Café des Ortes saßen Männer und es gab nur türkische Getränke. An der Tankstelle am Anfang des Dorfes wohnt der Mufti. Er ist gleichzeitig Tankstellenbesitzer. Vor der Haustür saßen die Frauen vom Dorf und redeten. Gegenüber in einem Garten beteten die Männer. Wir haben heute ein Fest, erklärte uns eine Frau, Beschneidungsfest. In einem Seitenweg hatten vier Frauen einen kleinen Markt aufgebaut und verkauften Stoffe und Kopftücher. Wir kauften Kopftücher in bunten, fröhlichen Farben und verdeckten unsere Schultern, um die Gemeinde nicht zu beleidigen mit unserer Nacktheit, obwohl es unerträglich warm war. Drei Frauen bereiteten ein Festessen vor mit Riesentöpfen auf dem Holzfeuer.
Schließlich entschieden wir uns, ohne den Mufti zum Friedhof zu gehen, und danach mit ihm zu reden. Auf dem Weg zum Friedhof redeten wir mit einem Mann, der uns erklärte, dass die 16 Leichen nicht in diesen Friedhof begraben sind, weil da kein Platz mehr wäre, sondern woanders. Er zeigte mit den Finger auf den nächsten Hügel und beschrieb uns den Weg genau. Überrascht stiegen wir in die Autos und folgten seiner Beschreibung. Wir hätten von alleine diesen Ort nie entdecken können. Von der Asphaltstrasse ging irgendwann ein Sandweg hoch, nicht zugänglich für Autos. Zu Fuß liefen wir 10 Minuten und kamen an die Spitze des Berges. Treckerspuren, eine offensichtlich frisch gegrabene größere Fläche und an einem Baum ein Schild. Es ist kaum lesbar, so viele Schüsse hat es abbekommen. Darauf steht:
Friedhof der illegalen Migranten - Muftibezirk Soufli
Wir standen alle da und glaubten unseren Augen nicht. Wir guckten uns an und wollten nicht das sehen, was wir vor uns hatten. Wir wollten ein respektvolles Grab finden und dies der Familien zeigen. Stattdessen standen wir vor einem Massengrab, das noch nicht einmal ein Friedhof ist. Und dann haben auch noch irgendwelche Idioten das rassistische Schild beschossen. Wie viele Male kann man Menschen umbringen?
Die Wut gewinnt. Wir machen ein paar Fotos. Viel zu wenige, aber wir sind nicht auf Recherche, sondern wollten sofort mit dem Mufti reden. Wir fuhren zurück zum Dorf, das Beten war gerade zu Ende. Die Frauen sagten, der Mufti ist bei den Männern. Die Männer sagten, der Mufti ist weg. Es war klar: er lässt sich verleugnen. Wir nahmen seine Telefonnummer, an die er die nächsten Tage nicht mehr ranging. Und rannten weg.
Wir hatten das Gefühl, dies so schnell wie möglich veröffentlichen zu müssen. Das aller Welt zu sagen. Am nächsten Morgen riefen wir den Gerichtsmediziner an. Er wurde noch wütender als wir. Er sagte, sein ganze Arbeit würde zunichte gemacht mit so was. Wozu dann Proben und alles, wenn sie die Leute dannach in ein Massengab werfen.
Es wurde ganz viel darüber berichtet in den nächsten Tagen. Und es wurde ganz viel gelogen:
Der Beerdigungsunternehmer, der alle toten Flüchltinge begräbt und für jeden 700.- € kriegt, erzählte, er hätte dort 150 bis 200 Flüchtlinge begraben. Beim nächsten Anruf eine Stunde später war die Zahl auf 100 runtergegangen. Der Vizepräfekt von Orestiada sagte vor der Kamera von Thraki-TV, dass das alles ein Lüge wäre von einem Blog und das nur ein Clique dort einen Freund begarben hätte. Am nächsten Tag wurden seine Lügen eingebaut in einen ganz tollen Beitrag desselben Senders, die vor dem Schild stehen, das jetzt besprüht wurde mit weißer Farbe, so dass das Wort „illegale“ nicht mehr sichtbar ist, sondern nur: „Friedhof Flüchtlinge“. Die Journalistin erzählt und zeigt das Massengrab und lässt dazwischen den Vizepräfekten seine Lügen erzählen. Am nächsten Tag erzählte der Mufti Journalisten, dass es drei derartige Friedhöfe gibt im Evros und dass die Polizei vor 10 Jahren damit angefangen und er irgendwann darauf bestanden habe, die Leute muslismisch zu beerdigen. Die 700.- € würden aufgeteilt mit dem Beerdigungsinstitut.
Nach der Entdeckung des Massengrabes setzten wir an unsere Suche nach den drei afghanischen Männern fort. Wir wollten sicher sein, dass sie nicht in einem der viele Knäste der Region gefangen sind und ihnen irgendwas vorgeworfen wird; das war unsere letzte Hoffnung. Letzte Station ist FERRES. Auch hier ist die Polizeistation gleichzeitig detention center. Von Außen sahen wir zwei zugemauerte fenster, im Hof parkten mehrere Jeeps, ein Gefangenentransporter vom Militär und auch ein Frontexfahrzeuge aus Estland. Wir gingen rein, ein letzer Versuch. Der Anblick war unglaublich: auf einem kleinen Balkon saßen zwei Uniformierte und guckten nach unten. In einem Hof lagen mehrere gefangene Flüchtlinge, sogar das Dach ist vergittert. Guantanamo mitten in einer Kleinstadt im Evros. Dieser Hof muss etwa 5x2 Meter sein und war voll von von der Hitze erschöpften Menschen. Durch die kleinen Fenster zum Hof guckten junge Männer. Die zwei Polizisten waren sehr beunruhigt durch unsere Anwesenheit und versuchten, uns schnell los zu werden. Nein, auch sie würden uns keine Namen sagen, sondern wir sollten zur Direktion nach Alexandroupolis.
10 Tage nach dieser ersten Reise des Infomobils in den Evros und nach vielen Veröffentlichungen über das Massengrab erfuhren wir, dass ein 40-jähriger Mann, der den Evros durchquerte mit zwei kleinen Kindern und einer 18-jährigen Frau, Verwandte angerufen und geschrieen hatte: wir sterben, wir sterben. Seit dann sind sie vermisst.
Der Gerichtsmediziner gab uns die Information: er hatte keine Leichen bekommen in den letzten Tagen.
Evros ist kein großer Fluss. Wenn er keine Grenze wäre, würden bestimmt AbenteuerurlauberInnen aus der ganzen Welt auf ihm fahren und genießen. Nur dadurch, dass der Fluß eine europäische Grenze ist, wird er zu einem tödlichen Gewässer. In Evros ist Krieg. Frontex, die griechische Armee und die griechische Polizei jagen Menschen, die versuchen, einzureisen in der falschen Hoffnung, hier Sicherheit und Frieden zu finden.
Nachtrag: Am 8.9.2010 kehrte einer der Teilnehmer unserer Reise zum Massengrab von SIDIRO zurück. Er fand einen frisch planierten, breiten und befahrbaren Sandweg vor, der auch Teile der Gräber überdeckte. Das Schild war inzwischen ganz verschwunden und ohne Ortskenntnis und GPS wäre das Massengrab nun gar nicht mehr zu finden gewesen.
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